Rattatata-rattatata-rattatata: Spieldosen im Jura

Im kleinen L’Auberson wurden vor hundert Jahren Musikspieldosen her- gestellt und in die Welt geliefert. Auch heute noch trällert und pfeift es aus dem Musée Baud, in dem die Kostbarkeiten repariert werden.

L’Auberson, Oktober 1955. Mit andächtiger Erwartung dreht die vierzehnjährige Arlette Baud den Schlüssel. Rattatata-rattatata-rattatata, singt er beim Drehen, dann stellt er an. Arlette zieht ihn aus der Halterung an der Seite einer porzel- lanen Puppe und eine sanfte Melodie beginnt zu spielen. Die Klänge purzeln aus dem Bauch der Puppe heraus und tanzen in der Luft, Musikdose und Glockenspiel kommen auf wundersame Weise zusammen. Ganz von alleine hebt die Puppe nun eine Hand und öffnet den Korb in ihrem Arm. Ein blökendes Lamm streckt seinen Kopf heraus und der Korbdeckel klappt wieder nach unten. Ein helles Lachen entfährt Arlette und noch bevor die Melodie ganz verklungen ist, zieht sie den Schlüssel erneut auf. Rattatata-ratta- tata-rattatata.

Arlette sieht der Porzellandame nicht unähnlich mit ihrer hellen Haut, der geraden Nase und dem wachen Blick ihrer jungen Augen. Sie ist die älteste Tochter des Musikspieldosensammlers und -mechanikers Frédy Baud. Seine Begeisterung bringt Gerätschaften aller Arten ins Haus: mechanische Vögel in zierlichen Goldkäfigen, lebensgrosse Trompetenspieler, selbstspielende Klaviere – aber auch feine Holzdosen mit kunstvollen Gravuren und Schnitzereien und tanzenden Figürchen. Die Familie Baud besitzt Kühe, im Sommer lebt sie von der Landwirtschaft. Während der langen Winter aber, wenn die Kühe im Stall stehen, werden in der Stube Automaten auseinandergenommen und wie- der zusammengesetzt, repariert, restauriert, gerettet. Es ist eine traditionsreiche Leidenschaft – nicht nur der Familie Baud, sondern der gesamten Region um Sainte- Croix: Viele Bauern können von den kargen Erträgen ihrer Höfe nicht überleben und stellen in der Heimar- beit Teile für die Produktion von Musikdosen her.

«Bienvenue au pays des revês mécaniques», begrüsst das Ortsschild von Sainte-Croix seine Gäste. «Willkom- men im Land der mechanischen Träume.» Es ist näm- lich nicht lange her, da war Sainte-Croix genau das: die Hochburg der Musikdosenproduktion.

Wenn eine Bäuerin vor zweihundert Jahren Musik hören wollte, musste sie am Sonntag zur Kirche gehen – sofern die Kirche im Ort denn überhaupt eine Orgel hatte. Monate konnten verstreichen, ohne dass ein einfacher Arbeiter Musik hörte. An Tagen, an denen die Militärmusik ins Dorf kam, schwärmte darum das ganze Volk zusammen. An Arbeit war nicht zu denken, wenn die Musik da war!

Seit es die Musik gibt, bemühen sich die Menschen dar- um, sie zu bewahren. Musik ohne Musiker – das war der Traum! Schliesslich war selbst der reichste König auf die Anwesenheit von Musikanten angewiesen. Um 1800 kam in Genf, damals noch eine Uhrmachermetropole, die Idee auf, winzige Glockenspiele in Uhren einzubau- en. Im wahrsten Sinne des Wortes wurde so die Zeit der Musikdosen eingeläutet. Denn bald trällerten nicht nur Taschenuhren, sondern auch so alltägliche Dinge wie Schnupftabakdosen. Über das Vallée de Joux gelangte das Handwerk in die Werkstätten des Jura; bald zog Sainte-Croix Uhrmacher aus der ganzen Westschweiz an. Einer von ihnen war Charles Reuge, dessen 1886 errichtete Spieldosenfabrik auch heute noch steht. Vierzig Unternehmen stellten in und um Sainte-Croix Spieluh- ren, mechanische Singvögel und Musik- automaten her – allein dreissig von ihnen im winzigen L’Auberson!

Es ist der 6. Oktober 1955 und durch das Fenster sieht Arlette die Menschen her- beiströmen. Ihr Herz pocht laut und voller Erwartung, fast wie der Schlüssel in der rosa Porzellandame. Rattatata-rat- tatata-rattatata. Die Mutter staubt noch einmal die Musikdosen ab, rückt eine Puppe ins Licht, sucht nach der Kurbel einer automa- tischen Orgel. Arlette hört sie ihren Namen rufen. Sie eilt zum Eingang, greift nach den Händen ihrer beiden Schwestern und hält sie fest, um sich von der Aufregung dieses Tages nicht den Boden nehmen zu lassen. Die Mutter bugsiert sie nach draussen. Da stehen sie, stolz wie Könige: Frédy und seine beiden Brüder, Auguste und Robert. Die wichtigsten Menschen der Welt sind heute nach L’Auberson gereist, um diesen besonderen Tag zu feiern und die Sammlung von Arlettes Familie zu bewundern: im ersten Musikdosenmuseum der Welt!

L’Auberson, November 2019. Eine gespenstische Leere erfüllt das Musée Baud beim Betreten. Im Halblicht, das durch den Eingangsbereich fällt, stehen die Figuren und Automaten stumm und etwas verloren da. Sie sind Schlafende – nicht tot, aber auch nicht mehr ganz lebendig. Wie Springteufel, die jeden Augenblick ins Leben zurückschnellen können. Im Werkstattraum unter dem Museum dagegen tobt das Leben der Musikdosen weiter, der Raum scheint in einem früheren Jahrhundert stehengeblieben zu sein: Es klirrt und knattert, Metall auf Metall, das Surren einer Bohrmaschine, eine Fräse rauscht. Über alledem tönt immer wieder das metallene Klingen einer Do-Re-Mi-Melodie. An den Wänden stehen Tische, die Mitte des Raums füllen Maschinen, alte und moderne, Regale voller Schubladen, Drähte und Schlüssel hängen von den Wänden und im angrenzenden Lagerraum stapeln sich die mechanischen Wunder vergangener Jahrhunderte. Hier arbeiten Michel Bour- goz und Pascal. Im Auftrag von Museen und privaten Sammlern reparieren sie Musikdosen und Automaten. Sie produzieren Ersatzteile und setzen die Apparate wieder zusammen. Die Werkstatt des Musée Baud ist die einzige, die noch mit den Methoden und der Präzision alter Tage arbeitet. Einmal, erzählt Michel, klopfte ein Kunde aus der Schweiz bei ihnen an. Er hatte auf der ganzen Welt nach einer Werkstatt gesucht, die seine kaputte Musikdose reparieren konnte. In Berlin schickte man ihn schliesslich in die Schweiz zurück: nach L’Auberson!

Das Geschäft mit den Musikdosen liegt Michel im Blut, denn sein Vater war der Bruder von Arlettes Mutter. Michel machte eine Ausbildung zum Mechaniker in Sainte-Croix, ein Nachbar lehrte ihn das Stimmen von Instrumenten: Für das Reparieren von Musikspieldosen ist sowohl musikalisches Gehör wie auch technisches Können nötig.

Jede Musikdose, die in die Werkstatt nach L’Auberson kommt, wird ausei- nandergenommen und auf fehlende Teile überprüft. In jeder Spieldose ist eine Walze mit kleinen Erhebungen eingelassen, sogenannte Goupilles, die beim Drehen der Walze an den Metallstiften eines Tonkammes anreissen und so eine Melodie erzeugen. Die Walze enthält die Partitur des Stücks. Angetrieben wird sie entweder mit einer Kurbel oder mit Schlüssel und Aufzugfeder.

Michel zupft die Metallstifte eines Kamms mit den Fingern an. Er ist auf der Suche nach der Melodie. Ist es ein Do? Er zupft noch einmal. Ein La? Vor hundert Jahren war das La in der Tonleiter tiefer, als es heute ist. Mi- chel stellt den Unterschied fest, aber er fragt nicht nach dem Weshalb. Er zupft noch einmal, zupft einen zweiten Stift. Ein Do. Mit Filzstift setzt er einen roten Punkt auf die Unterseite des Kamms und macht eine Bleistiftnotiz auf ein Stück Papier. Dann spannt Michel den Kamm in eine Halterung ein und macht das Stimmgerät an. Vor hundert Jahren gab es das natürlich nicht, aber es erleichtert die Arbeit. Mit einer Fräse schleift er an den schiefen Tönen, bis sie wieder richtig klingen.

Er setzt den Tonkamm hinter der Walze ein, die Ar- lette ihm reicht. Sie arbeitet nicht mehr in der Werkstatt, für das Reparieren der Walzen wurde eine jüngere Frau eingestellt. Die Arbeit hat sie nie verlernt. Der Walze fehlen noch einige der feinen Goupilles und als Michel den Schlüssel aufzieht, zittern ihre Töne unsicher. Aber sie spielt wieder und ein zufriedenes Lächeln huscht kaum merklich über Michels ernstes Gesicht.

In den Jahrzehnten, die auf die Museumseröffnung fol- gen, reisen Menschen aus aller Welt nach L’Auberson, um das berühmte Musikdosenmuseum zu besuchen. Charlie Chaplin bittet persönlich um eine Führung durch die Ausstellung, die Musikergruppe Les Frères Jacques kommt zu Besuch und der Komponist Roberto Benzi. Das Museum empfängt jedes Jahr dreissigtausend Besucher aus allen Ecken der Welt – eine unverhoffte Menge für ein Dorf mit 600 Einwohnern am Rande der Schweiz. Der rege Austausch fördert die Re- staurierungsarbeiten in der Werkstatt, es werden immer mehr alte Stücke an- und wieder verkauft. Die Arbeit ist kaum zu bewältigen.

Viele Stunden verbringt Arlette mit ihrer Mutter in der Museumswerkstatt und setzt die Goupilles in die Walzen ein. Die Goupillage wird seit jeher aus- schliesslich von Frauen betrieben. «Sie haben die zarteren Hände – und vor al- lem mehr Geduld!», wird Arlette später erzählen. Mit einem feinen Nagel und ei- nem Hämmerchen werden Löcher in der Walze vorgestanzt. Mit einer Zange wird ein langes Stück Draht in die Löcher eingesetzt und dann abgeschnitten. Arlette ist eine begnadete Goupilleuse – bis zu 700 Goupilles setzt sie in der Stunde ein. Wenn alle Goupilles eingesetzt sind, wer- den ihre Spitzen auf die gleiche Länge abgeschliffen. Die fertige Walze wird mit Harz gefüllt und überzogen, so halten die Goupilles beim Spielen fest.

Arlette und Michel übernehmen das Museum nach dem Tod von Frédy Baud. Ihr ganzes Leben haben sie in L’Auberson verbracht – mit wenigen Unterbrechungen zumindest. Das Museum, die Musikdosen sind ihr ganzes Leben, eine hereditäre Leidenschaft, der sie sich nicht entziehen können. Aber das Musée Baud rentiert schon längst nicht mehr: Andere Automatenmuse- en sind entstanden, für die man nicht ins abgelegene L’Auberson reisen muss. Es passiert, was mit jedem gol- denen Zeitalter passiert: Es verblasst in matte Sepiatöne und wird zum Gegenstand der Nostalgie. In zwei Jahren wird die Sammlung der Familie Baud an ein Museum in Sainte-Croix verkauft. Es ist ein Schritt, den Arlette nur sehr zögernd und mit schwerem Herzen eingegan- gen ist. In ihrem kleinen Museum lebt die Seele ihres Vaters, sie spürt ihn, wann immer sie das Rattatata-rat- tatata-rattatata eines alten Schlüssels hört, wenn die Orgeln, Trompeten und Glocken durch die leeren Räume dröhnen. Dann ist es, als wäre die alte Zeit wieder da. Selbst Weihnachten verbringt die Familie Baud in den Museumsräumen: Hier haben alle dreissig Familien- mitglieder Platz, jemand kann singen, jemand anderes spielt Klavier und eine Cousine Harfe. Inmitten all dieser Musikautomaten schwört selbst die Familie Baud hin und wieder auf «ein Stück Musik von Hand gemacht», wie Reinhard Mey es einst nannte.

Die Ausstellung, die in Sainte-Croix aufgehen wird, wird nicht die Seele haben, die sie oben in L’Auberson noch hat. Aber Arlette hat alles in das Museum inves- tiert und mit ihren fast achtzig Jahren ist sie gezwungen, an die Zukunft zu denken. Sie hat keine zweite Säule, irgendwie muss sie leben können.

Das schwindende Interesse an der Musikdosenkultur nimmt auch André Ginesta, ehemaliger Vorsitzender des Vereins «Schweizer Freunde Mechanischer Musik» wahr. Der Altersdurchschnitt der Vereinsmitglieder liegt bei über fünfzig Jahren – dass Musikdosen einst tief in der Schweizer Tradition verankert waren, weiss heute niemand mehr. In den 1870er-Jahren war die Musikdose einer der wichtigsten Exportartikel der Schweiz, doch die Tradition ist verklungen, wie es auch mit den Apparaten selber geschah.

Die Euphorie um die Spieldosen hielt bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts an, als die Plattenspieldose erfunden wurde. Ihr Prinzip ist dasselbe der Musikdose: Ein Tonkamm schlägt gegen die Ausstanzungen in einer sich drehenden, metallenen Scheibe und erzeugt so eine Melodie. Schnell wurde die Plattenspieldose zum Massenprodukt; sie war billiger und konnte mehr Lieder spielen, vor allem aber war sie laut. Damit traf sie genau den Zeitgeist, denn die Welt um sie her war ebenfalls lauter geworden: Es war die Zeit der Industrialisierung.

Mit der Erfindung des Grammophons 1928 brach die Nachfrage nach mechanischer Musik zusammen. Erst in den 1930er- und 40er-Jahren sollte der grosse Boom noch einmal zurückkehren: Während über dreissig Jah- ren entstand eine Industrie für kleine Spieldosen, die man Kindern schenkte. Als jedoch China und Japan in die Produktion miteinstiegen, war dies das Ende der Musikdosenproduktion in Sainte-Croix. Mit der Billig- ware konnte kaum eine Fabrik mithalten.

L’Auberson, November 2019. Arlette Baud zieht den Schlüssel aus der rosa Porzellandame mit Lamm und legt ihn behutsam auf das Regal neben ihr. Dieser Schlüssel war einst der Schlüssel zur Musik für die Menschen. Heute würden sie ihn verrosten lassen, gäbe

es Arlette und Michel und ihre kleine Werkstatt nicht. Für sie ist er ein Schlüssel zu ihrer Kindheit, zur Begeis- terung ihres Vaters, die sie so lange weitergetragen hat. Zwei Jahre noch. Was dann? – Arlette möchte reisen gehen. Sie spricht davon mit demselben Glänzen in ihren Augen, das auch dagewesen sein muss, als das Museum eröffnet wurde. Die Vorstellung von Abenteuer viel- leicht. «Wenn es die Gesundheit erlaubt», fügt sie hinzu, der Gedanke kommt verspätet. Es ist leicht, das Alter zu vergessen, wenn es so leicht ist, sich an das Kind zu erinnern, das man war. Arlette wird nach Chicago reisen, zum grössten Musikspieldosenmuseum der Welt. «Ein Schloss, und es ist voller Spieldosen!»

Es ist ein neuer Traum für ein neues Leben.